24. Okt 2023
von: Henning Koch
Rubrik: Festivalberichte
Film:ReStored
„Absence“ – Von Lücken und Abwesenheiten im Archiv und Kino
Abwesenheiten zeigen sich in der Filmgeschichte immer wieder – insbesondere mit Blick auf die Produktionsumstände und die Vergänglichkeit des analogen Filmmediums. Verschollene, zerstörte und ungesehene Werke, die mangelnde Darstellung und Beteiligung von marginalisierten Gruppen oder äußere Eingriffe durch Zensur und Aufführungsverbote resultieren bis heute in filmischen Leerstellen. Die achte Ausgabe des Filmerbe-Festivals Film Restored der Deutschen Kinemathek setzt sich vom 25. bis 29. Oktober 2023 mit dem Thema „Absence“, also den Lücken im Archiv und im Kino, auseinander. 17 Filmprogramme sowie zahlreiche Werkstattberichte, Podiumsgespräche und Vorträge thematisieren die Aspekte der Abwesenheit in den Filmwerken, die fehlende Rezeption und das Fernbleiben des Kinopublikums.
An erster Stelle steht dabei der Umgang mit verlorenen und wiedergefundenen Filmen bei der Filmrestaurierung. Rund 80 Prozent der frühen Stummfilme gelten als verschollen. Dafür gibt es verschiedene Gründe, wie eine mangelhafte Lagerung und Erfassung der Pionierwerke bei ihrem Erscheinen, eine chemische Zersetzung der Filmrollen, die zum Teil aus hoch brennbarem Nitratfilm bestanden oder die Zerstörung von ganzen Sammlungsbeständen während der Weltkriege. Doch immer wieder lassen sich Fragmente oder vollständige Werke wiederfinden, die lange Zeit nicht auffindbar waren. Das Film Restored Festival präsentiert in diesem Jahr das aus fünf Kurzfilmen bestehende Avantgardewerk EUROPA der polnisch-jüdischen Künstler*innen Franciszka und Stefan Themerson aus dem Jahr 1931. In einem Werkstattbericht werden unterschiedliche Rekonstruktionsversuche gezeigt, die bis zur Wiederentdeckung der einzigen verfügbaren Kopie im Bundesarchiv-Filmarchiv unternommen wurden. Rund 80 Jahre nach seiner Premiere lässt sich EUROPA in aufwändig restaurierter Form auf der Leinwand wieder erleben.
Auch die Abwesenheit von gesellschaftlicher Diversität in der Filmgeschichte geht auf verschiedene Ursachen zurück. Zum einen bekamen marginalisierte Gruppen nur selten die Möglichkeit, ihre Lebensrealitäten vor und hinter der Kamera zu repräsentieren. Zum anderen wurden autonom gedrehte Amateurfilme, die diese Themen aufgriffen, häufig nicht in institutionellen Kontexten archiviert und erhielten somit keine Möglichkeiten für eine weitreichende Verbreitung oder Aufarbeitung. Film Restored stellt einige unbekannte Filmbewegungen vor, die mit ihren Graswurzelproduktionen Einblicke in bestimmte gesellschaftliche Situationen ermöglichen. Darunter sind die Super-8-Filme der PARAÍBA QUEER WAVE, welche sich in den 1980er Jahren mit der Unterdrückung von Homosexualität in Brasilien auseinandergesetzt haben sowie das Programm IRISH WOMEN AMATEUR FILMMAKERS, das die Bandbreite des Filmschaffens irischer Frauen aus den 1960er Jahren darstellt.
Abwesenheit und Verlust sind darüber hinaus ebenfalls wiederkehrende Themen in den Geschichten, die das Kino erzählt. Im Folgenden findet ihr besondere Empfehlungen aus dem diesjährigen Festivalprogramm.
Henning Koch
Film Restored – Das Filmerbe-Festival findet vom 25. bis 29. Oktober 2023 im Kino Arsenal statt. Das komplette Programm findet ihr auf der Festival-Website.
IN DER FREMDE (DAR GHORBAT) (1975)
Darum geht es:
Husseyin kommt aus der Türkei nach West-Berlin. Seine tägliche Routine an einer Stanzpresse wechselt mit Spaziergängen durch die triste und abweisende graue Stadt. Er ist hier fremd und offensichtlich nicht willkommen. Solidarität erfährt er nur bei den alltäglichen Gesprächen mit anderen Arbeitsmigrant*innen in der Gemeinschaftsunterkunft in Kreuzberg und den gemeinsamen nächtlichen Versuchen, bei Prostituierten und im Casino etwas Ablenkung von neugierigen Blicken, Treppenhausgeschwätz und Alltagsrassismus zu finden.
Was du zum Film wissen musst:
Der in Teheran geborene Regisseur Sohrab Shahid Saless emigrierte Mitte der 1970er Jahre nach dem Erfolg seiner beiden ersten Langfilme bei der Berlinale in die Bundesrepublik. IN DER FREMDE war sein erster in Deutschland gedrehter Film und zeigt die Problematik des Anwerbeabkommens, durch das zahlreiche vor allem männliche Arbeitskräfte ins Land geholt wurden, ohne eine Heimat finden zu können.
Termin beim 8. Film Restored Festival:
Freitag, 27.10.2023, 17 Uhr, Kino Arsenal
IL CAVALIERE INESISTENTE (THE NONEXISTENT KNIGHT) (1969)
Darum geht es:
Agilulf ist ein Paladin unter Karl dem Großen. Tugendhaft geht er seinen ritterlichen Pflichten nach. Doch er existiert nicht, seine makellose weiße Rüstung ist leer und wird nur durch seine Willensstärke und den Glauben an die heilige Sache zusammengehalten. Als der konkurrierende Paladin Torrismund eine Intrige schmiedet und Agilulfs Rittertitel infrage stellt, sieht dieser sich mit seinem Ende konfrontiert. Denn wenn ihm die Rüstung aberkannt wird, würde auch seine Existenz enden.
Was du zum Film wissen musst:
Mit IL CAVALIERE INESISTENTE verfilmte der italienische Karikaturist und Animationsfilmemacher Pino Zac die gleichnamige Fabel von Italo Calvino aus dem Jahr 1959. Darin vermischen sich Zeichentrick- und Puppenelemente in Kombination mit Realfilmaufnahmen zu einer absurden Komödie über ritterliche Tugenden als leere Hülle. Die animierten Sequenzen entstanden in Zusammenarbeit mit tschechischen Produktionsfirmen wie den Filmstudios Barrandov, die international für ihre Trickfilmtechniken berühmt waren.
Termin beim 8. Film Restored Festival:
Sonntag, 29.10.2023, 17 Uhr, Kino Arsenal
SOLEIL DE PRINTEMPS (SPRING SUN) (1969)
Darum geht es:
Ein Büroangestellter, der aus einer bäuerlichen Familie in der Provinz kommt, versucht in der pulsierenden Großstadt Casablanca Fuß zu fassen. Unzufrieden mit seiner repetitiven Tätigkeit driftet er in den Mittagspausen und nach der Arbeit durch die Stadt und versucht, neue Bekanntschaften zu schließen. Dabei trifft er jedoch auf falsche Freunde, die seine Gutmütigkeit schamlos ausnutzen und hat auch bei der Suche nach einer Lebenspartnerin kein Glück. Als gesellschaftlicher Außenseiter bleibt ihm der berufliche Aufstieg verwehrt und er fühlt sich zunehmend isoliert.
Was du zum Film wissen musst:
Das Sozialdrama ist ein Frühwerk des marokkanischen Regisseurs Latif Lahlou. In eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Aufnahmen wandert der Protagonist im Vérité-Stil durch die lebhafte Metropole Casablanca. Seine familiäre Herkunft und der Verlust der Heimat wird dem großstädtischen Treiben in Rückblenden gegenübergestellt. SOLEIL DE PRINTEMPS zeigt den eintönigen Büroalltag als Resultat von eingespielten Machtverhältnissen und agiert als präzise Studie von Marokkos kolonial geprägter Klassengesellschaft.
Termin beim 8. Film Restored Festival:
Freitag, 27.10.2023, 20 Uhr, Kino Arsenal
ANITA – TÄNZE DES LASTERS (1987)
Darum geht es:
Eine alte Frau in einer psychiatrischen Klinik, gespielt von Lotti Huber, fantasiert ihr bewegtes Leben als exzentrische Nackttänzerin Anita Berber im Berlin der 1920er Jahre. Ihre Vita reflektiert die wilde Zeit zwischen den Weltkriegen, sexueller Befreiung und Drogenrausch in Anlehnung an die expressionistischen Stummfilme der damaligen Zeit.
Was du zum Film wissen musst:
Queer-Ikone Rosa von Praunheim zeichnete mit ANITA – TÄNZE DES LASTERS eine schillernde Hommage an die provokante Tänzerin der Stummfilmzeit. Mit den nüchternen Aufnahmen der Gegenwart, die in schwarz-weiß gehalten sind und den bunten expressionistischen Visionen aus den 1920er Jahren kehrte Kamerafrau Elfi Mikesch die übliche Farbdramaturgie um. Die Premiere der digitalen Restaurierung eröffnet das diesjährige Film Restored Festival.
Termin beim 8. Film Restored Festival:
Mittwoch, 25.10.2023, 19 Uhr, Kino Arsenal